We walk into the Woods

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Bericht zur Intercolor-Konferenz zum Frühjahr 2017 in St. Gallen – ein assoziatives Gestocher und Gestolper im Unterholz von Trends, Zeitgeist und Sprache

„Locus Amoenus“, sagt der Spanier Miguel Gonzalez, sei das Leitmotiv der neuen Saison. Locus Amoenus? Klingt irgendwie unappetitlich. Was könnte es sein? Ein verbotenes Klo, eine Klappe? Entwarnung: Es hat nichts mit dem deutschsprachigen „Lokus“ zu tun, jenem stillen Örtchen, das man aufsucht, wenn die propulsive Peristaltik einsetzt. Und Amoenus hat nichts mit Amöben zu tun. Locus Amoenus steht für „lieblicher Ort“ und beschreibt normalerweise eine idealisierte Naturlandschaft, die „mit den Metaphern von Frühling oder Sommer und einer fruchtbaren oder lebendigen Gegend wie einem Garten oder einer lieblichen Wiese dargestellt wird“ (Wikipedia).

Der Locus Amoenus wird nicht der einzige sprachliche Stolperstein sein – die Türkei kommt wenig später noch mit „Quiescence“ (ruhend, unbeweglich) und Italien mit „Oniric“ (neblig, unscharf). Doch der Locus Amoenus ist ein veritabler roter Faden: Als gemeinsamer Nenner taucht auch in anderen Präsentationen immer wieder diese unberührte, von digitalem Rauschen ungestörte Naturwelt auf. Sie scheint eine starke Sehnsucht zu sein in einer atemlosen Zeit, die den meisten von uns immer weniger Gelegenheit zur Besinnung bietet. Dieses Spannungsfeld – zwischen Natur und Kunstwelt, zwischen real und virtuell – ist der Nährboden, auf dem die Trends der Zukunft entstehen.

Destilliert werden sie von den Mitgliedern von Intercolor, einem internationaler Farbexperten-Fachkreis, der seit 1963 existiert und für sich in Anspruch nimmt, das wichtigste langfristige Orakel für Farbentwicklung zu sein. Fünfzehn Länder und Delegierte trafen sich Ende Mai 2015 im Textilmuseum St. Gallen, um Perspektiven für die Saison Frühling/Sommer 2017 zu skizzieren. An diesen Ideen haben die meisten Experten während rund zwei Monaten gearbeitet, um sie schliesslich im halbjährlichen Turnus mit ihren Kollegen zu teilen. Es ist für sie gleichsam der Startschuss in eine noch weit in der Zukunft liegenden Saison.

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Ein bunter Reigen der Ideen

Basis der Konferenz sind die so genannten „Encounters“, für die jede der teilnehmenden Delegationen einen kreativen Impuls aus seinem jeweiligen Markt mit an die Konferenz bringt. Diese Impulse sind Basis der nachfolgenden Arbeit an Farbtableaus, die sich daraus kristallisieren. Zu den Encounters liefert jedes teilnehmende Land ausserdem den Vorschlag einer „nationalen Farbkarte“  für die jeweilige Saison. Diese besteht meistens aus vier Segmenten, die zusammen einen gesamten Farbkreis darstellen.

Intercolor ist ein kreatives Forum für Menschen mit diesem besonderen Flair und Talent zur Farben-Alchimie. Die Worte erfinden für Dinge und Gefühle, die erst diffus sicht- oder empfindbar werden. „Es geht darum, sich frei und in einem offenen Rahmen über die Entwicklung von Farben auszutauschen“, sagt die Britin Joanna Bowring, Präsidentin von Intercolor, „Was jetzt gezeigt wird, sind Schnappschüsse und Impulse, welche die nachfolgenden Meetings beeinflussen.“ Durchs Programm der zweieinhalbtägigen Konferenz führt in der Regel Niels Holger Wien, Vizepräsident und Repräsentant von Schweiz und Deutschland.

Nun also zurück zum Locus Amoenus. Spanien brachte ihn ins Spiel. Das Land ist relativ neu dabei und eröffnete seinen Vortrag mit dem prophetischen Satz: „Wir glauben, die Welt zu besitzen, aber tatsächlich sind wir ihr Besitz.“ Es werde in Zukunft darum gehen, so der spanische Farbfachmann Miguel Gonzalez, „wieder eine Balance zwischen Natur und Menschheit zu finden.“ Die Lebenszyklen von Produkten müssten länger werden, lokale Produktion soll gefördert werden. Es folgte ein kaleidoskopisch verpixelter Film über eine sich schnell ändernde Welt, in der Natur zunehmende eine artifizielle Qualität hat und wie durch den Zerrspiegel betrachtet wird. Auf der Tonspur vermischt sich das Plätschern eines Bachs mit dem Rauschen einer Autobahn. Eigenartige, organisch anmutende künstliche Wesen mäandern durch Glaskästen.

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Auch die Finnen bei Intercolor lockten die Zuschauer in den Wald, und zwar zum Waldgeist Hiisi. Dieser ist ein dämonischer Troll aus der finnischen Mythologie, der von einer Reihe niederer Geister unterstützt wird. Typisch 2015: Mystik mischt sich mit Zeitgeist. Die Farbpalette dazu: Dunkle Blau- und Grüntöne, Moos, Dunkelbraun, leuchtendes Petrol und Gelb. Finnland feiert 2017 seine einhundertjährige Unabhängigkeit, so Tuija Maija Piironen. „Die finnische Kultur ist zwischen den Grenzen von Schweden und Russland entstanden und fusst in einem „nationalen Romantizismus“ – Natur spielt bei uns immer eine wichtige Rolle“, so die finnische Delegierte.

Natur ist auch bei den Briten ein starkes Leitmotiv. Daneben stehen Elemente von Fantasie und Surrealismus. Joanna Bowring und Marie Rousseau von der BTCG British Textile Colour Group zeigten eine Reihe von Inspirationen mit dem Titel„The poetics of life“. „Ich suche immer wieder nach neuen Inspirationen“, sagt darin etwa der Designer/Künstler Dominic Wilcox, der sich mit surrealen Designideen der „Neuerfindung der Normalität“ verschrieben hat. So hört er mit einer Kombination aus Duschbrause, Schlauch und Vogelhäuschen den Vögeln zu.

Oder da ist Mark Dorf: Er hängt dreidimensionale Projektionen in die real existierende Natur. Friedrich van Schoor und Tarek Mawad installieren LED-Technologie in Bäumen, um sie zu „biolumineszierenden Wäldern“ zu machen. Chloé Rutzerfeld lässt selbst wachsende „Edibles“ mit 3-D-Druckern drucken, die sich dann autonom weiterentwickeln.

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Bunte Mailänder Farbklangwolken

Etwas bruchstückhaft wirkt das Menu, das Vittorio Giomo im Namen der italienischen Fachgruppe Coloris Italian Color Insight präsentiert. Natürlich kommt die Weltausstellung in Mailand üppig vor. Die Welt hat Hunger – nicht nur nach Lebensmitteln, sondern auch nach Ideen. Das Leitmotiv der Expo in Mailand lässt sich in verschiedene Richtungen interpretieren. Dann springt der Referent zum neuen Silo-Museum von Armani und von dort sogleich zur Fondazione Prada, das mit neuen, von Rem Koolhaas gestalteten Ausstellungsräumen auftrumpft.

Das Motto der italienischen Farben von Ornella Bignami: Sound of Colours. Man sieht Pigmentwolken, die sich zu Pianoklängen formen. Jede Farbe entspricht einem musikalischen Ton und ergibt zusammen eine Melodie. Es wird in „Hope“ mit offenen Augen geträumt, in „Kind of Blue“ tiefe Melancholie empfunden oder im „Outback“ die ursprüngliche Materialität der Natur und die spröde Farbigkeit der trockenen Wüste gefeiert.

Bald schon stellt sich im sturmen Kopf ein Gefühl von Überforderung ein, das sich im Laufe des Tages zu einer kleinen Migräne steigert. So viel Information und Inspiration auf  einmal! Zwei mal vier Stunden ziehen sich die Präsentationen hin. Zum Glück, möchte man fast sagen, sind die Delegierten aus China unerwartet zu Hause geblieben und haben ihre Präsentation nur als PDF übermittelt – es wird sehr summarisch und innert vier Minuten abgehandelt. Doch auch bei den Chinesen ist viel Natursehnsucht spürbar: Die Themen drehen sich um Kultur und Natur, Kunst und Kultur, Natur und Kunst sowie Kultur und Technologie. Derselbe Spannungsbogen spannt sich über das Reich der Mitte.

Bleiben wir noch ein wenig im Fernen Osten! Auf der anderen Seite des ostchinesischen Meeres, in Korea, vermelden die beiden Gesandten Namhee Lee und Jae Yun Moon eine „Food Renaissance“: Auch in Korea, einem der höchsten technisierten Ländern der Welt, sind Kochsendungen im TV gerade sehr populär – besonders solche, die ursprüngliche Zutaten und Gerichte zum Inhalt haben. Der Dokumentationsfilm von „Wookjung Lee“ (Food Odyssey) macht das ursprüngliche, natürliche Essen zum zentralen Thema.

Auch aus Korea kommt ein eigenartiges, kaum googlebares neues Wort auf uns zu: Wellthness, eine Kombination aus Wellbeing & Health. Dieser Trend macht die Arbeit an einem gesunden und fitten Körper zum Thema. Auch in Korea modelliert man bewusst die Figur mit Hilfe von Fitnesscentern. Dazu wird der wilde Wald als Erholungs- und Entspannungsraum neu entdeckt und idealisiert. Wo kein Wald ist, hilft eine Wald-App fürs Smartphone weiter: Man lädt damit einen langsamen Kameraflug durch satte Baumwipfel mit feinen Windgeräuschen und beruhigendem Vogelgezwitscher runter.

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Zwischen Technologie und Natursehnsucht

„Technologie kann und soll helfen, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern“, postulieren auch die japanischen Intercolor-Vertreter, Tohru Ohzeki und Kahoru Ohsawa: „Eine zentrale Aufgabe wird es sein, der Technologie ein menschliches Gesicht zu geben.“ Dazu zeigt Ohzeki einen gigantischen Luftballon mit einem Gesicht eines älteren Mannes, der in die Luft steigt und am illuminierten Nachthimmel leuchtet. Wenig später zeigt auch das thailändische Duo – Tannawat Ruangteprat und Suthini Tanangsnakool – ein Video, welches der Künstler Paul Trillo drehte und leere menschliche Silhouetten zeigt, die sich in Zeitlupe durch Naturlandschaften bewegen und mit Farbpigmenten bestäubt werden. Man sah die Szenen schon in den Projektionen der Engländer.

Filme sind bei den Intercolor-Präsentationen ein beliebtes Mittel, schwer Fassbares zu erklären. Das tun auch Isabel Moutinho und Luis Parada aus Portugal und zeigen ein selbst gemachtes, inspirativ-assoziatives Video mit Menschen im urbanen Raum, Silhouetten und Insekten, Naturphänomenen und Oberflächen wie mit Flechten bewachsenen Steinen oder altem Parkett. So richtig klar wird die Sache aber nicht.

Angenehm nebulös bleibt der sich formende Zeitgeist für den weit entfernten Sommer 2017 auch beim türkischen Beitrag. Özlem Suer und Ümit Ünal berichten vom „Eternitarian“ – das ist jemand, der in die Ewigkeit der Seele glaubt. Die Menschen würden auch in der Türkei einen Sinn im Leben, einen tieferen Wert des Daseins suchen, so Ümit Unal. Sein zweites Thema: Nyctophilia – Menschen, die Dunkelheit und die Nacht lieben. Auch hier ist der Film des biolumineszenten Waldes zu sehen (den die Briten schon zeigten).

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In Nischen klebende Körperskulpturen

Flucht aus der Realität und Digitalität in die Natur und Langsamkeit, gleichzeitig aber auch die Integration der Digitalität in einen neuen Kontext – das ist das Leitmotiv vieler Teilnehmer. Aus der Reihe tanzt Deutschland. Niels Holger Wien vom DMI Deutschen Mode Institut spricht sich für „Diversität“ aus und beruft sich auf das Berliner New-Media-Festival Re:publica, welches die digitiale Zukunft skizziert. Das Motto der Konferenz war „Finding Europe“ – freilich unter digitalen Vorzeichen.

Wiens zweites Thema lautete „Urban Interventions“ – das ist eine Art lebendiger Körperkunst im öffentlichen Raum. Willi Dorners „Bodies in urban spaces“ sind in Nischen oder hinter Laternenpfählen regungslos „klebende“ Menschen, denen man auf Stadtrundgängen begegnet. In diesen „Körperskulpturen“ werden bunt gekleidete Menschen zum Amalgam mit der Architektur um sie herum. Die Bilder funktionieren als Metapher: Man „baut aufeinander“, um neue Welten zu erschliessen.

Drittes Thema aus Deutschland sind „Pop Wearables“, wie sie die Musikgruppe Deichkind mit seinen LED-Jacken zeigt. Die Band tritt neuerdings als einen Art „Digital Avatars“ auf und verwendet neueste Wearable-Technologie für ihre Bühnenshows. Niels Holger Wien erkennt darin eine Art von Urban Street Art, welche die Pop-Bühnen betritt.

Wieder deutlich spiritueller die USA, die in der Hackordnung der Weltmächte zwar die erste Geige spielen, bei Intercolor der alphabetischen Reihenfolge wegen sogar noch hinter der Türkei kommen. Lan Vu, Michael Nolte und Kristina Markovski sind in der Beauty-Industrie tätig und zeigten eine Serie von„Beautystreams“. Die Farben dazu, „eine Saison der Energie in einem positiven Sinne“, entwickelten sie auf Basis von vier der sieben Chakras.

Ein Beispiel von vieren: „Vitality“ zeigt auch Natur, aber nicht in der rückwärtsgewandten Hippie-Art, sondern sehr modern. Es geht um ein Bild der Natürlichkeit, wie es junge Designer entwerfen und um Eco-Couture. Der Farbcode ist stark von künstlich-grünen Tönen, aquatischen Blautönen und Neutralen geprägt.

Spannend auch das US-Thema der „Assemblage“: Es stellt Fragen der Identität und des „Neukonfigurierens“ des eigenen Körpers über plastische Chirurgie. „Pick & choose your ideal body“ lautet der Slogan. Man sampelt seinen Traumkörper zusammen. Es geht aber gleichzeitig auch um das Fragmentieren und zerlegen von Körperlichkeit. Der Farbcode ist geprägt von verschiedenen Rot- und Hauttönen, Pink und Honiggelb.

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Die Schweiz macht den Spagat

Schliesslich die Schweiz, die diese Saison ja Gastgeberin der Intercolor-Konferenz in St. Gallen war. Da war zum einen der eloquente und immer entspannt wirkende Peter Flückiger, Direktor des Verbandes Swiss Textiles, der einen Überblick über die historische und heutige Bedeutung des Textilschaffens in der Schweiz gab. Zu den bekanntesten Produkten der Schweizerischen Textilindustrie steht die exklusive Spitze und Stickerei. International gefragt sind aber auch die Heimtextilien aus der Schweiz. Ein Wachstumsmarkt sind zudem die technischen Textilien für Medizin oder den Bereich Automobil. Schliesslich gibt es, so Peter Flückiger, einen neuen Markt von jungen Designlabels, die für Aufsehen sorgen. Zu den bekannteren gehören Julian Zigerli, Lyn Lingerie oder Huber Egloff.

Und dann der Primus inter pares – wiederum Niels Holger Wien, ein lieb gewonnener Weggefährte und inzwischen teurer Freund, der nicht nur für die deutsche Farbkarte seine Argumente auf den Tisch legt, sondern parallel auch die schweizerischen Interessen bei Intercolor vertritt. Parallelen zu Vorrednern lassen sich fast in all seinen Vorschlägen finden, am deutlichsten aber in dem Thema „Biophilia“, das wiederum den Spagat zwischen Natur und Technik zum Inhalt hat. Über das Schaffen der Ostschweizer Künstlerin Pipilotti Rist, die mit ihren Interventionen unsere Kultur in Frage stellt und die Augäpfel auf irritierende Weise massiert, fand Niels Holger Wien auch zu einem Pipilotti-Rist-Votum, das den sturmen Tag voller Impressionen ideal zusammenfasste: „Komm, Schatz, wir stellen die Medien um und fangen noch einmal von vorne an.“

Nachbemerkung für alle, die tatsächlich bis hierhin durchgelesen haben und hofften, doch noch einen funktionierenden Schlüssel zur Zukunft zu bekommen: Eine definitive, verbindliche Intercolor-Saisonfarbkarte zum Sommer 2017 wurde erst am Folgetag meines Besuchs destilliert. Sie ist aber sowieso nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern nur ein internes Arbeitsmittel für die verschiedenen Ländervertreter, die damit ihre eigenen Programme legitimieren oder nachschärfen. Man bekommt diese in der Schweiz über www.swisstextiles.ch 

Zweites Postscriptum vom Freitag, 29. Mai: Es gibt inzwischen einen aktuellen Beitrag im TV Ostschweiz, der das Geschehen bei Intercolor recht verständlich und auch anschaulich macht … sowie einen bunten Bericht des SRF Regionaljournal Ostschweiz, in dem ich auch ein paar Dinge sagen darf (ab Minute 18.45 reinhören).

 

1 Comment

  • Antworten Mai 29, 2015

    Gerold brenner

    merci für die Einblicke und Durchblicke

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