Im Rahmen der Ausstellung «Material Matters» im Textilmuseum St. Gallen werde ich mit Kuratorin Silvia Gross Mitte Oktober 2020 über die Wechselwirkung von Mensch und Kleidung diskutieren. Meine These ist diese:
«WAS MAN TRÄGT, STRAHLT MAN AUCH AUS»
Das klingt ein bisschen windig, und wie so oft in meinem Fall ist es keine scharfe Wissenschaft, sondern gefühlte Wahrheit. Zum besseren Verständnis der Behauptung folgende Gedanken:
Beim Essen und Trinken hat unsere Gesellschaft eine mittlere Reife erlangt, was Haltung, Herkunft und Handel von Lebensmitteln betrifft. Immer mehr Menschen ernähren sich halbwegs bewusst, und der Anteil an Bio-Kost steigt stetig. Der Wandel hat moralische Gründe, aber nicht nur: Viele Menschen sind davon überzeugt, dass biologisches, faires und nicht-industriell hergestelltes Essen ihnen gut tut. Dass das, was sie zu sich nehmen, mehr oder weniger direkt ihre eigene Gesundheit positiv beeinflusst.
Dass natürliches Essen der Gesundheit zuträglich ist, ist wissenschaftlich belegt. Weniger eindeutig sind die Forschungsergebnisse betreffend der industriell hergestellten Fasern, mit denen sich Menschen in zunehmendem Masse kleiden. Es ist zwar klar, dass feine synthetische Faserpartikel, die über die Waschmaschine in die Weltmeere gelangen, den Tieren dort schaden – aber man weiss nicht, ob sie auch den Menschen belasten, der die Kunstfasern am Leib hat.
Vielleicht ist es aber auch unerheblich, ob die Forschung hierzu eines Tages ausreichende Belege präsentieren kann. Denn der steigende Marktanteil von Kunstfasern steht auf einer anderen, vielleicht genauso erheblichen Ebene in einem eigenartigen Kontrast zum allgemeinem Lifestyle der Nachhaltigkeit: Was das Wohlbefinden und die emotionale Komponente des Daseins betrifft.
Vereinfacht gesagt: Es scheint rätselhaft, wie man sich zwar für Bio-Food, Hybrid- und Elektroautos, klimaschonendes Reisen und Wassersparen interessieren, dann aber doch in Polyester-Klamotten von Massenherstellern in der Welt herumlaufen kann. Und das tut die ganz grosse Mehrheit der Bevölkerung – man schaue sich nur einmal eine beliebige Menschenmasse auf einem willkürlich ausgesuchten Bahnhof des Landes an.
Ich bin überzeugt: Die Menschen in ihren kalt raschelnden Nylon- und Polyesterjacken haben das Konzept eines ganzheitlichen Lebensstils nicht verstanden – oder sie sind gefühlstot, was die emotionale und sinnliche Komponente von Textilien betrifft. Eine Kunstfaser mag eine imposante technische Errungenschaft sein – doch sie ist frei von natürlichen „Talenten“. Alle Funktionen, die Naturfasern von selbst haben, bekommt die Synthetik erst durch aufwändige chemische Behandlungen.
Für die Herstellung von Outdoor-Kleidung kommen sehr oft Giftstoffe wie PFC zum Einsatz, die über die Haut und die Atemluft nicht nur den Träger belasten, sondern bei Nutzung und Pflege auch die Umwelt verschmutzen.
Naturfasern sind zwar auch nicht unproblematisch in Anbau und Gewinnung, doch sind sie im Gegensatz zur Synthetik von selbst im Stande, zuverlässig zu wärmen, kühlen, ventilieren oder schützen. Sie haben auch emotional eine ganz andere Qualität als die Kunstfaser. Sie haben eine sinnliche und aktive Komponente, die vom Leben her rührt, das sie gelebt haben – ob es nun tierische oder pflanzliche Fasern sind. In diesen Garnen steckt die Energie von Wind und Wetter, von Sonne und Mond. Diese bleibt erhalten – messbar ist es kaum, aber fühlbar. Wenn man die Sensoren dafür hat.
Deshalb rate ich den Menschen immer, nicht mit dem Blick aufs Preisschild ihre Kleidung einkaufen zu gehen, sondern mit verbundenen Augen und mit den Händen durch die Regale tastend. Wo die Sinne angeregt werden, wo die Fingerkuppen angenehm gekitzelt oder gestreichelt werden, ist meist viel Energie und Natur drin. Diese spürt man auch, wenn man ein solches Stück anzieht, besser noch: man strahlt die Energie, die in qualitätsvollen Naturfasern steckt, auch selber aus.
Es mag ein bisschen esoterisch klingen, aber ich bin durch meine Erfahrung und den täglichen Kontakt mit Mode aller Art felsenfest davon überzeugt, dass es in Textilien eine nicht-messbare Energie gibt, die sich auf den Besitzer eines Kleidungsstücks überträgt. Und wenn es nur die Einbildung und damit das Selbstbewusstsein ist, sich etwas mehr als das absolute Minimum gegönnt zu haben.