We go for detox

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Heute mittag mit nervöser Spannung an der ersten Schweizer „Digital Detox“ Konferenz in Zürich teilgenommen – ich war als Eröffnungs-Speaker eingeladen, meine persönlichen Erfahrungen mit dem „digitalen Entgiften“ zum besten zu geben. Üblicherweise bin ich an solchen eher seriösen Themenkonferenzen der „Rausschmeisser“, also der, der zum Schluss noch einen heiteren, „lifestyligen“ Beitrag leisten darf. Das bedeutet nun entweder, dass ich mich mit dem ernsten Thema „Digital Detox“ in den letzten Monaten irgendwie profiliert habe – oder aber, dass die Konferenz unseriös war. Das war sie allerdings nicht, im Gegenteil. Es war sehr viel Substanz in den vier Folgereferaten, und es war mir eine besondere Ehre, den Grundton für den Nachmittag zu geben. Meine zehn Thesen zu einem moderaten digitalen Entgiften sind HIER recht gut zusammengefasst nachzulesen.

Zum Auftakt der Konferenz mussten alle Teilnehmer (es waren nicht viele, vielleicht ist der Veranstalter mit dem Thema noch zu früh) ihre Mobiltelefone abgeben. Diese wurden in einem Kuvert verschlossen an der Garderobe gelagert – während der folgenden fünf Stunden piepste und fiepte es nicht ein einziges Mal, was sehr wohltuend war, wenngleich etliche Teilnehmer ein mulmiges Gefühl dabei hatten, ihren digitalen Dauerbegleiter für so lange Zeit aus der Hand zu geben. Einige nahmen ihr Smartphone nach sechs Uhr abends beim Verlassen des Papiersaals (Sihlcity) mit feuchten Augen und zittrigen Finger wieder in Empfang, um kräftig zu „re-toxen“.

Simon Künzler von der Online-Agentur Xeit, der die Konferenz veranstaltete, sagte in seiner Eröffnungsansprache, dass „die Geräte, die uns täglich begleiten, aus der Hölle sind“ und sie hochgradig suchtgefährdend seien. Es machte deutlich, dass auch professionelle Internet-Menschen ihre Probleme mit der digitalen Permanenz haben. Künzler selber macht darum selber regelmässig Offline-Sabbaticals und geht in Skandinavien fischen, um sich wieder zu erden.

Die Geräte, die uns täglich begleiten, sind aus der Hölle.

Dann war ich an der Reihe. Und prompt streikte nach zehn Folien die Präsentation. Ein schneller Computerwechsel von Windows auf Mac, dann ging es weiter durch meine Erfahrungen mit der digitalen Sucht. Mein initiales Motiv war jenes denkwürdige Bild aus dem Rijksmuseum in Amsterdam, das eine etwa zehnköpfige Gruppe Jugendlicher in typischer Jeans-und-Sneakers-Kleidung zeigt, welche auf einer Bank sitzt und komplett auf ihre Smartphones fixiert ist. Keines der Kids würdigt das Bild, vor dem sie sitzen – die „Nachtwacht“, das bedeutendste Meisterwerk des niederländischen Malers Rembrandt.

Aufgenommen hat das Bild der Niederländer Gijsbert van der Wal. Was genau die Jugendlichen auf ihren Geräten gerade anschauten, bleibt ihr Geheimnis – auch der Fotograf kann darüber nach eigenem Bekunden nur rätseln. Fest steht: Der Schnappschuss der Gruppe ist zu einer Art Symbol für eine Generation geworden, die vor lauter digitalen Rauschens keinen Sinn mehr für ihre Umwelt hat. Allerdings könnte man auch denken: Die Kids von heute sind derart wissbegierig, dass sie sogleich alles zu Rembrandt van Rijn googeln?

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Das beste Tool zum spontanen digitalen Detoxen: Das gute alte Velo. Ideal zum runterkommen und ganz ohne App durch die Welt zoomen. (Foto: Andrea Monica Hug)

Danach referierte der 25-jährige Blogger und Social-Media-Manager Kevin Kyburz, der bei Radio 24 und Radio Argovia als Internet-Guy tätig ist und ein Dauervernetzter ist, der sich zeitweise ganz bewusst gegen diese Herausforderung stemmt und dann einen „Offline-Day“ ausruft, den er und seine Freunde begehen. Das nächste Mal ist es am 15. Dezember so weit. „Ich verdiene mein Geld, indem ich den ganzen Tag auf Facebook rumhänge“ begann Kyburz seine Ausführungen scherzhaft. Er lobte die positive Wirkung von kleinem Alltags-Detoxing, die man durch handwerkliche Beschäftigungen spürt – eine These, die ich auch vertreten hatte. Kevin Kyburz kocht gerne und „fährt dabei herunter“. Auch schaltet er nachts von elf bis sieben Uhr bewusst den Router aus, um nicht gestört (oder in Versuchung gebracht) zu werden. Kyburz schloss seine Erklärungen mit dem Satz:

Man kann schon so tun, als hätte man diese digitale Dauerbelastung im Griff, aber irgendwann überrollt einen das Zeug.

Es folgte der App-Entwickler und Web-Spezialist Michel Lapiccirella von der Swisscom, der vor den Teilnehmern der Konferenz bekannte: „Ja, ich bin süchtig, ich kann nicht ohne meinen digitalen Begleiter und bin mir bewusst, dass ich deswegen auch das eine oder andere verpasse.“ Sein persönliches Detox sei regelmässiges Breakdance-Training. Die Swisscom habe bemerkt, dass sich das Problem der digitalen Abhängigkeit in der jüngsten Zeit verschärft habe, so Lapiccirella, allerdings: „Die meisten Menschen identifizieren es selbst noch nicht als Problem.“ Der Fachmann zeigte drastische Zahlen, welche die Humboldt-Universität in Berlin erhoben hat: 28% der Arbeitszeit geht im Schnitt durch Ablenkungen und Unterbrechungen verloren, ein Siebtel der Bevölkerung darf als „abhängig“ bezeichnet werden – und nur eine Stunde offline pro Tag könne schon dazu beitragen, dass sich die betroffenen Menschen wieder besser fühlen.

Zum Detoxen hat die Swisscom das Startup „Offtime“ übernommen und bietet deren App als „Kontrollwerkzeug“ an, um den individuellen digitalen Rhythmus zu messen und das Bewusstsein für die Zeit zu schärfen, die man online verdaddelt. Die App wurde weltweit bereits über 500’000 mal geladen. Auch Lapiccirella sagte (wie ich), dass Multitasking nachweislich negative Auswirkungen auf die Produktivität habe und Digital Detox – nebst Mindfulness, also bewusstem Leben – einer der kommenden grossen Trends sei, die jetzt bereits im Silicon Valley spürbar sind. Bei Swisscom wird zudem die „Medienkompetenz“ im kommenden Jahr ein wichtiges Stichwort sein. Lapiccirella schloss mit den Worten:

Offtime ist das neue bio.

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Nach der Pause (mit frischen Säften von „Not Guilty“) stand Mirco Fehr von STFU auf der Bühne. STFU steht – man verzeihe – für „Shut the fuck up“ und wurde als App ins Leben gerufen, welche die User für Offline-Zeit belohnen wollte. Das Konzept ist crowdfunded, aber noch weitgehend in der Findungsphase, wie aus dem Vortrag deutlich wurde. Die Zielgruppe ist interessant: STFU zielt bewusst auf junge, also „digital Geborene“, die besonders aktive Online-Nutzer sind. Interessant war Fehrs Aussage, man wolle sich mit STFU „der Digitalisierung entgegen stellen“. Womit? Mit einer App, mit Event, mit einer „Gamification“ (spielerischer Approach) und Reward-Systemen, mit denen die User Gutschriften für ihre Offline-Zeit bekommen. Der lustigste Aspekt schien mir die „STFU-Challenge“: Dabei packt ein User sein eigenes Smartphone in ein luftgepolstertes Couvert und schickt es sich selber per B-Post zu. Mindestens zwei Tage Offline-Zeit sind garantiert.

Den aus meiner Sicht sprachlich wie inhaltlich überzeugendsten Beitrag des Detox-Tages lieferte Unternehmer Dr. David Hoeflmayr, der Chef des Server-Händlers Thomas Krenn AG ist. Hoeflmayr sagte, dass für ein digitalisiertes Unternehmen heute vier Dinge zentral sind:

  1. Offenheit / Teilen (führt zu Kreativitätskultur)
  2. Agilität / Anpassungsfähigkeit (führt zu flexiblen Organisationsstrukturen und fördert schnelle Entscheide)
  3. Partizipation / Einflussnahme durch Mitarbeiter und Kunden (führt zu Sinnstiftung und Autonomie)
  4. Vernetzung / Verschwinden von Unternehmensgrenzen (führt zu Heterarchie und Kollaborationen)

Stressquellen für Mitarbeiter von digitalisierten Unternehmen wie das von Hoeflmayr seien parallele Informationsflüsse bzw, Multitasking, Änderung von System, allzu komplexe Nutzeroberflächen, Inkonsistenz von Systemen und Sicherheitsregeln.

Hoeflmayrs Gegenmassnahme lautete: „Wir schalten ab!“ Das betraf eine Reihe von Plattformen, wobei sich herausstellte, dass eine Migration der Inhalte oft nicht mal nötig war, wenn nur die Terminierung des Abschaltens rechtzeitig bekannt war. Was wichtig war, wurde schon gerettet, bevor der Stecker gezogen wurde. Des weiteren wurde eine stärkere Reglementierung eingeführt und eine bessere Systemschulung, welche die Arbeit für viele erleichterte.

Wir schalten ab!

Hoeflmayrs  Thema war auch, wie man E-mails in den Griff bekommt, welche viele Menschen heute als moderne Geissel empfinden. Die Lösung war eine bewusst eingeführte E-mail-Sperre, die von 20 bis 07 Uhr dauert (sehr sensible Bereiche wie Bereitschaft und Customer Support ausgenommen) und es den Mitarbeitern der Firma verunmöglicht, nachts E-mails zu empfangen oder zu versenden. Der Server liefert nachts einfach nichts aus. Erst hätten vor allem die Führungsleute rebelliert, die sich teilweise durch Übereifer hervortun, doch nach nur drei Monaten sei die Massnahme bereits Normalität gewesen und hätten die Mitarbeiter über eine gesteigerte Lebensqualität berichtet.

Des weiteren werden Hoeflmayrs Teams bewusst und systematisch im Gebrauch von E-mails geschult. Wie, wann und warum schreibt man etwas, wie strukturiert man die Nachricht und hält sie knapp, und das wichtigste: bei Konflikten und Problemen schreibt man keine Mail, sondern spricht miteinander. Was auch eine meiner Ansagen war. Durch diese Massnahmen habe man heute eine messbare Reduktion des betriebsinternen E-mail-Verkehrs und eine gute Akzeptanz der „Hausregeln“ erreicht.

Den Schluss des Vortragsreigens machten die Forscher Gian-Claudio Gentile und Claudia Meier-Magistretti von der FH Zentralschweiz in Luzern. Sie forschen nach BGM, betrieblichem Gesundheits-Management in digitalen Zeiten. Sie stellten fest, dass in vielen KMU (kleinen und mittleren Betrieben) die Prozesse sich selbst überlassen werden, was für die Mitarbeiter oft das Gefühl des „Gefangenseins im Hamsterrad“ erhöht und für gesundheitliche und psychische Störungen sorgt. Allerdings registrieren die Forscher auch, dass man in den Unternehmen beginnt, das Problem zu erkennen und darüber zu sprechen. Gentile und Meier-Magistretti sprechen auch von „Führung und Management in der Unsicherheitszone“, welches nötig werde, wenn es um Intimität, Privatheit und Werte geht. Was vor allem Führungskräfte alter Schule vor beträchtliche Herausforderungen stellt.

Die Gesundheitsforscher aus Luzern forderten darum von den Führungskräften „eine partizipative Regelung der Entgrenzung“ der Arbeit der Mitarbeiter, „wobei implizit vorhandene Normen auch explizit angesprochen werden“, von den Mitarbeitern gleichzeitig eine „qualifizierte Autonomie“. „Die grenzenlose Freiheit muss eingegrenzt werden, in Absprache mit Vorgesetzten und im Dienste der Gesundheit“, so Gentile und Meier-Magistretti. Eigentlich ginge es also nicht um Digital Detox, sondern um das Schaffen von Digital Awareness, also einem Bewusstsein für die veränderten Belastungen in digitalen Arbeitsweisen und -welten.

Es geht nicht so sehr um Digital Detox, sondern um das Schaffen von Digital Awareness.

Als „Souvenir“ eines erkenntnisreichen Tages im Zeichen des digitalen Entgiftens wird mir aber vor allem ein Ding noch lange in guter Erinnerung bleiben: Es ist der supercoole, magisch in sich ruhende „i-Stone“ des Bildhauers Horst Bohnet, der aus schwarzem Granit eine kleine Taschenskulptur geschaffen hat, die in Form und Haptik verblüffend dem iPhone ähnelt. „Der iStone ermöglicht dank permanenter Stummschaltung störungsfreie Kontakte“, philosophiert Bohnet mit einem gesunden Witz. Man ist garantiert unerreichbar, beim Date, am Arbeitsplatz, in der Schule, im Kino und Theater. Ausserdem kann der iStone auch nicht abgehört werden, was heute noch wichtig scheint. „Offline zu sein wird Status-Symbol und der iStone ein greifbares Zeichen dafür“, sagt der Bildhauer, der jeden iStone mit seinen eigenen Händen erschafft. Ich fand die Idee so liebenswert, dass das Objekt seit heute auch bei AP&CO in Zürich zu kaufen ist.

istonepresse

Ein grosser Dank den Organisatoren für dieses pionierhafte Zusammenbringen von Dingen, die in der Luft liegen und Leuten, die das auch spüren. Ende des Reports.

PS. vom 28.11.2015: „Offtime ist das neue Bio“ – ein aktueller Bericht aus dem Winterthurer „Landboten“… hier gibt es das PDF dazu: zrz_Digital Detox_28.11.2015

PPS vom 29.11.2015: Ein guter, sehr persönlicher Artikel zur Digital-Sucht aktuell in der „New York Times“

PPPS. vom 30.11.2015: Auf der Personal-Plattform „HR TODAY“ ist dieser Tage auch noch ein gutes Summary zu dem Thema erschienen …

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