„Schon seit geraumer Zeit trage ich einen in jungen Jahren gestochenen Ohrring, genauer eine kleine Creole. Wie die Zeit verging, habe ich mir immer wieder die Frage nach etwas Neuem gestellt, aber mich dann stets, mangels anständigen Antworten aus dem Netz, auf später vertröstet. Wie es nun der unglückliche Zufall wollte, ist mir vor ein paar Tagen den vorhin erwähnten Ohrring abhanden gekommen und ich somit einmal mehr vor der Frage: „Ist es als modernen Gentleman noch zeitgemäss ein Ohrring zu tragen und falls ja, was empfiehlt sich?“ – Michel M.
Mein lieber Michel, nun habe ich mich mit der Antwort aber laaaange Zeit gelassen, fast ein Monat ist vergangen seit Ihrer Zuschrift – danke für Ihre Geduld. Das lange Schweigen hat zum einen mit einer individuellen Dauer-Überlastung zu tun … andererseits aber auch mit einem gewissen Unwillen meinerseits, in dieser Frage Stellung klar zu beziehen. Denn ich meine, dass es heute möglich ist, als Mann Ohrringe zu tragen. Man muss sich in vernünftigen, halbwegs aufgeklärten Milieus nicht mehr vor falschen Vorurteilen oder Repressionen fürchten, wenn man sich als Mann schmückt. Mir gefällt das, dass es möglich ist – dass man tun kann, was einem lieb ist. Ich bin immer für Toleranz und Freiheit. Ob man allerdings alle Freiräume auch ausloten muss, die sich einem heute bieten, ist eine andere Frage.
Ich meine, und damit trete ich Ihnen hoffentlich nicht zu nahe: Ohrring sehen an 98 Prozent der Männer ein bisschen billig aus. Sie wirken, als hätte dieser Mann die falschen Prioritäten im Leben, als schaue er zu viel Fussball, sei in einer Kampfsportgruppe engagiert oder sei Vorstandsmitglied des lokalen Philipp-Plein-Fanclubs. Männer mit Ohrringen – googeln sie die Kombination einfach mal – sind nur selten coole Typen. Sie finden Diego Maradona, Justin Bieber, Bros, Daniel Küblböck, Will Smith, Puff Daddy, Justin Timberlake. Usher oder David Beckham. Ein Haufen zeitgenössischer Lackaffen und Wichtigtuer, aber keine Männer mit Stil, an die man sich auch in fünfzig Jahren noch gerne erinnern wird. Daher meine ich: Lassen Sie das Kapitel Ohrring jetzt ruhen, der Verlust Ihrer Kreole war ein Wink mit dem Zaunpfahl, den die Götter des Stils Ihnen zukommen liessen.
Ausnahmen gibt’s allerdings, und sie sind ausdrücklich erwünscht. So ist ethnischer Schmuck oft schön zu schauen (dazu zählen auch lokale Traditionen wie das „Chüeli“ im Ohr der echten Appenzeller), und in zwei von hundert Fällen kommt plötzlich ein Bild von einem Kerl um die Ecke, der mit grösstem Selbstverständnis dicken Ohrschmuck trägt und cool anzuschauen ist. Aber es ist die Ausnahme! Prince hätte es gekonnt (tat es aber fast nie). Vielleicht gehören sie zu den zwei Prozent – ich hoffe es. Aber versprechen Sie mir nur eines, bitte: Kommen Sie mir jetzt nicht mit diesen grässlichen, entstellenden Plugs, also den Stöpseln, mit denen moderne Rebellen und bärtige Hipster ihre Ohrläppchen dehnen. Dafür bringe ich leider keinerlei Verständnis auf.