Ein Buch, das mich nun schon mein ganzes Leben begleitet und vor deren Autorin ich viel Respekt habe, ist «Reclams Mode- und Kostümlexikon», geschrieben von der Wiener Historikerin Ingrid Loschek (1950 – 2010). Man kann in dem 650 Seiten dicken Buch, das von A bis Z alle möglichen Kleidungsstücke, Moden und Designer auflistet, immer wieder etwas entdecken, es ist eine wahnwitzige Fundgrube des textilen Wissens.
Im Jahre 2004, ich noch relativ neu bei der «Neuen Zürcher Zeitung», hatte ich das Vergnügen, die Autorin in Zürich zu interviewen. Sie bestätigte meine Erwartung einer hochintelligenten, eloquenten und vielseitig interessierten Expertin – ausserdem hatte sie einen guten Humor. Der Artikel ist HIER zu finden (Paywall). Ein Jammer, verstarb Ingrid Loschek so nur sechs Jahre später. Sie hätte noch viel mehr zu erzählen gehabt und bestimmt ihre Freude gehabt am postmodernen Dauer-Rezyklieren der Stile, das heute in der Mode Usus ist.
Ingrid Loschek hätte bestimmt auch ihr Buch weiter und weiter überarbeitet, so wie es sie in jeder neuen Auflage tat. Und dem Werk neue Kapitel hinzugefügt, die seither fehlen. Anders gesagt: Wer das «Mode- und Kostümlexikon» heute zum ersten Mal zur Hand nimmt, der wird wohl nicht recht warm damit werden. Es hat inzwischen ein historisches Ungleichgewicht. Zuviel Vorgeschichte, Mittelalter, 17. bis 19. Jahrhundert, ausführliche Einschätzungen zum 20. Jahrhundert – doch zu wenig Neuzeit, und fast nichts aus den letzten 25 Jahren. Das ist in der Mode eine kleine Ewigkeit, die da fehlt, zumal die Jugend jetzt ja die Nullerjahre neu zu kombinieren beginnt.
Weiterhin unverzichtbar sind die Grundbegriffe und wichtigsten Formen – weil diese immer wieder mal neu verwendet werden. So werden Redingote, Ulster und Paletot heute zwar bei den meisten Anbietern unscharf unter dem Begriff «Mantel» zusammengefasst, aber es ist noch immer erheblich, die Unterschiede bezüglich der Knopfreihen, Kragenformen, Falten und Längen zu kennen. Ob man aber auch den Havelock, Carrick oder die Kotze beschreiben können muss? Letzterer Mantel ist übrigens so hässlich nicht, wie sein Name vermuten lässt.
Mein Verdacht ist dieser: Für die meisten Menschen beginnt die Geschichte der Kleidung nicht irgendwo in grauer Vorzeit oder der Antike, sondern vielleicht Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich jene Formen herausbildeten, die heute noch gültig sind. Natürlich sind die Justaucorps (1660 bis etwa 1720) spannend, oder die Heerpauke (16. Jh) – doch das sind aus heutiger Sicht exotische, nicht mehr gebräuchliche Kleidungsstücke, die allenfalls noch im Theater auftauchen. Sie haben mit den heute üblichen Formen kaum mehr etwas zu tun.
Es wäre schön, wenn der Verlag den Nerv hätte, das Buch auch im 21. Jahrhundert à jour zu halten. Das ist gewiss mit erheblichem Aufwand verbunden, doch die Basis dessen, was Ingrid Loschek versammelt hat, verpflichtet Reclam eigentlich dazu, diesen Schatz nicht nur zu konservieren, sondern zu pflegen. Ich läse in einer kommenden Ausgabe gerne etwas über die Stichworte Abloh, Botox und Celebrities, dafür könnte man die Allongeperücke, den Balteus oder die Caracalla weglassen.