Seiten auf Null

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Heute (Donnerstag, 5. Oktober 2023) wurde in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) ein Artikel von mir publiziert, der zu reden gab – es geht um die „Seiten-auf-Null“-Frisur, die junge Männer aktuell gerne haben. Der Artikel erschien erst unter einem verkorksten, politisch scharfmacherischen Titel, der wenig mit der Aussage meines Textes zu tun hatte, weswegen ich ihn hier gerne mit der originalen Überschrift noch einmal wiedergebe – auch um Missverständnissen vorzubeugen. Ich stelle niemanden der so eine Frisur trägt, pauschal ins islamistische Lager. Dass ich diese Frisur aber doof finde, dürfte auch deutlich werden. Doof ist aber nicht dasselbe wie extremistisch.

Scharf kalkuliert und rasiert

Die «Grobian-Frisur» ist der Haarschnitt der Stunde – sie heisst «Seiten auf Null», wie man es in den gerade populären Barber Shops anbietet.

 

«Seiten auf null», so heisst die derzeit beliebteste Frisur für junge Männer. Die seitlichen Kopfpartien werden mit dem Trimmer ganz ausrasiert oder eben «auf null» geschnitten. Null ist die Einstellung am Gerät, mit dem frisiert wird. Oben lässt man mehr oder weniger Haar stehen, ganz nach Geschmack. Es ist eine Art radikalisierter Undercut, bei dem Partien unter längerem Deckhaar ausrasiert werden.

Was für Ältere wie eine halbfertige Friseurarbeit aussieht, ist bei Jungen ganz normal – eine «Demi-Frisur», ein halb rasierter Schädel. Es gibt Varianten mit scharfer Kante (Helmfrisur) und weichem Übergang zum Haupthaar, einem «Fade».

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Foto: Hair Spies / Unsplash

Man bekommt diesen Haarschnitt in den vielen Barber-Shops, die seit einigen Jahren überall eröffnet wurden und in denen meistens mit dem Haartrimmer statt der Schere gearbeitet wird. In solchen Barber-Shops sind zu 99 Prozent Männer tätig, zumeist südosteuropäischer oder arabischer Herkunft, und die Kundschaft ist rein männlich. Bedient wird in der Regel ohne Terminabsprache. Wer warten muss, setzt sich in die Ecke und drückt auf seinem Smartphone herum oder erzählt ein paar derbe Herrenwitze.

Die neuen Barber-Shops sehen fast alle gleich aus: retro-inspiriertes Interieur in schwarzem Leder und dunklem Holz, alte Registrierkassen, ein Servierwagen mit Whisky, auf dem Schaufenster einfache Logos mit stilisierten Männerköpfen und gekreuzten Rasiermessern oder geöffneten Scheren. Es riecht nach scharfem Rasierwasser und wuchtigen Parfums im orientalischen Stil von Oud, einem Räucherholz. Manche machen zudem mit einem «barber pole» auf sich aufmerksam, das ist ein gläserner Zylinder mit rot-weiss-blauen Diagonalstreifen, der sich dreht.

Alle zwei Wochen zum Service

So wenig variantenreich diese Anlaufstellen für Rasierwillige aussehen, so schlicht ist die dort am häufigsten nachgefragte Frisur. Die Ursprünge des «Seiten auf null»-Schnitts liegen im Milieu von Männern, die gern Fäuste sprechen lassen, statt Argumente auszutauschen. Man kennt den Look von Hooligans, Kickboxern, Türstehern, Security-Bediensteten, Fussballern, Dealern oder Deutsch-Rappern – allesamt Berufe, in denen ein gewisses Mass an Gewalt normal ist.

Man schaue sich das Video des Kreuzberger Rappers Agir an, der «Seiten auf null» eine Nummer gewidmet hat. Der Text strotzt vor pubertären Gewaltphantasien. Es wird geschossen und gevögelt, und das Feindbild ist grundsätzlich die Polizei, die auf Einhaltung gewisser Gesetze pocht.

Auch Agirs rappende Mitbewerber Aslan und Bartmann haben das Thema aufgegriffen. Letzterer berichtet immerhin von einem praktischen Vorteil des Haarschnitts: «Mit ‹Seiten auf null› stehst du niemals an im ‹Berghain›.» Gemeint ist der hippste Nachtklub in Berlin. Man hätte dort eher den Vokuhila als Norm vermutet, aber offenbar sind auch Nicht-Hipster willkommen.

Rasiert wird im Viertelstundentakt

Die Reime der Rapper mögen grobschlächtig sein, die Ausführung der «Seiten auf null»-Frisur bedarf allerdings einer ruhigen Hand – sowie regelmässiger Updates. Spätestens nach zwei Wochen muss diese Frisur wieder zum Service. Der Besuch beim Barber wird also so normal wie das Work-out im Fitnesscenter, geht aber auch ins Geld. Darum bieten viele der Barber-Shops ihre Dienste sehr günstig an und peitschen ihre Kunden im Viertelstundentakt durch den Salon. Vielerorts kostet die Rasur knapp die Hälfte eines konventionellen Herrenschnitts.

Kombiniert wird die Grobian-Frisur gerne mit einem mehr oder minder scharf geschnittenen Bart, der vorne spitz wie der Schienenräumer einer Dampflokomotive geformt ist. Auch schmale Schnauzer sind populär. In seiner akkuraten Ausgestaltung unterscheidet sich dieser Look doch deutlich vom Salafisten-Bart, der nur am Kinn spriesst und gemäss der Lehre der religiösen Fundamentalisten nicht zu eitel getrimmt sein darf. Auch tragen islamische Fanatiker nicht unbedingt Balenciaga- und Louis-Vuitton-T-Shirts, die bei Trägern der Grobian-Frisur hoch im Kurs sind.

 Allerdings beobachten Fachleute eine Durchmischung: «Manche Salafisten kombinieren ihr betont traditionelles Aussehen mit Kleidungsstücken, die in der zeitgenössischen Jugendkultur verbreitet sind», schreibt die Polizei des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen in einer Infobroschüre zum Thema.

Ein Ort für dunkle Geschäfte?

Nicht zuletzt aufgrund dieser Nähe stehen die neuen Barber-Shops vielerorts unter skeptischer Beobachtung. In Städten wie Berlin, wo ganze Strassenzüge – etwa die Sonnenallee – voller Barber-Shops sind, hat die Kriminalpolizei die Branche im Visier. Es wird vermutet, dass viele der Geschäfte zum Kaschieren von Clankriminalität dienen beziehungsweise Umschlagplätze für Geldwäsche, Drogenhandel, Schmuggel und Prostitution sind.

Auch sollen dort Gotteskämpfer angeworben werden. Dem Reiz dieser maskulinen Rückzugsräume dürfte ein solcher Generalverdacht nicht abträglich sein – auch wenn am Ende oft nur bei den Arbeitsverträgen und Sozialabgaben, den Lohnausweisen, den Quittungen oder der Mehrwertsteuer getrickst wird.

Auch in der Schweiz stehen die Barber-Shops unter Beobachtung. So hat der Zürcher SVP-Politiker Ueli Bamert im vergangenen Frühling eine Anfrage bezüglich der Rechtskonformität der Barber-Shops im Kantonsrat eingereicht. Die Antwort des Regierungsrats zeigt, dass der Boom von den Behörden registriert wird: «Der Regierungsrat ist sich der Problemstellungen in der Branche bewusst. Sie wird daher seit einigen Jahren mit einer hohen Priorität kontrolliert.» So wurden bei 90 von 228 untersuchten Standorten Übertretungen festgestellt, etwa gegen das Lebensmittelgesetz, das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb oder gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz.

Aktuell auch in Kleinstädten

Solange die aktuelle Mode den jungen Männern den Grobian-Haarschnitt vorschlägt, werden die Barber-Shops weiter florieren. In Deutschland hat sich ihre Zahl innert fünf Jahren verzehnfacht, so schätzen Branchenfachleute. In der Schweiz ist es ähnlich: Nach den urbanen Zentren erobern die Scharfrasierer inzwischen bereits die Klein- und Mittelstädte.

Sie finden auch dort Kundschaft, denn tatsächlich frisieren und rasieren sich die Männer von heute viel bewusster und damit wohl auch häufiger als noch vor zwanzig Jahren. Ging ein Mann früher in der Regel alle sechs bis acht Wochen zum Haarschneiden, so entspricht der neue Stil einer Verdreifachung der Nachfrage. Entsprechend braucht das Gewerbe Platz und Stühle.

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