Virtualization of Fashion

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Für das Magazin «Best Fashion» der deutschen «Men’s Health» habe ich vor kurzem einen längeren Text über die zunehmende Virtualisierung der Modewelt geschrieben. Es geht um digitale Influencer, die es nur aus Bits & Bytes gibt oder um Kleidung, die gar nie genäht, sondern nur als visuelle Animation entworfen wurde. Ich stehe dieser Entwicklung ambivalent gegenüber – zum einen ist es natürlich faszinierend, dass auch die virtuelle Welt «Kleidung» braucht, zum anderen ist es irgendwie betrüblich, dass diese nur noch programmiert, aber nicht mehr genäht wird. Es kommt einem vor wie fantastische Architektur für Game-Welten: Alles ganz ideenreich und wahnsinnig, aber es hat wenig mit unserer real existierenden Welt zu tun, ist also ein Stück weit auch reiner Selbstzweck für einen online-fixierten Mikrokosmos.

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Die Geschichte erschien auf sechs Seiten, illustriert mit vielen im Text erwähnten Phänomenen und Akteuren. Hier kommt der Text…

ECHT? WHO CARES! 

Die Mode ist dabei, die virtuelle Welt zu erobern. Bereits werden Kleider, die es nur im Computer gibt, für Tausende von Dollars versteigert. Neue Designer-Kollektionen werden als Games lanciert. Die digitalen Influencer, welche diese Entwicklung befeuern, sind auch bereits geboren. Sie sind nichts weniger als makellose Fantasiewesen. 

Text: Jeroen van Rooijen

Ein jeder hat es wohl schon erlebt: Man sieht beim Daddeln etwas im Internet, kauft es mit wenigen Klicks – und wundert sich dann erst einmal, wenn das Paket nach einigen Tagen ankommt. Denn so stylish und raffiniert wie im gut gemachten Online-Clip sieht das bestellte Produkt im echten Leben nicht aus. Es fühlt sich billig an (ist es meistens auch!), klappert, knarzt oder macht anderswie einen minderwertigen Eindruck, der einem online auf die Schnelle gar nicht aufgefallen war.
Ähnliches passiert häufig auch, wenn man Menschen zum ersten Mal begegnet, denen man davor bereits auf Social Media gefolgt ist: Die Vorlage hält nicht, was das Abbild verspricht. Und man fragt sich: Hat diese Person einfach ein sehr gutes Händchen für Selfies? Oder wurde diese Existenz auch sonst leidenschaftlich getrickst, gefiltert, gephotoshoppt und inszeniert? War sie/er nicht sexyer, glamouröser, schillernder, schlanker, witziger – und besser gekleidet?
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Solche Enttäuschungen werden Shudu und Koffi Gram nicht erleben. Sie leben in einer perfekten Welt, in der alles so ist, wie versprochen – oder noch besser. Denn Shudu und Koffi sind selber Idealfiguren. Sie sind von ihrem Schöpfer, dem etwas rundlichen Cameron-James Wilson, als digitale Wesen erschaffen worden – so, wie man sich makellose Körper vorstellt. Gebastelt hat Wilson sie, wie er selber gerne sagt, auf einem billigen Game-PC im Gartenhaus seiner Mutter. Jeder mit etwas Kenntnisse im Programmieren könne so etwas, so Wilson, dessen Idee inzwischen zur virtuellen Model-Agentur «The Diigitals» ausgewachsen ist.
Shudu, im April 2017 geboren, hat inzwischen über 210k Follower auf Instagram, ihr „Partner“ Koffi, Anfang 2019 geboren, bringt es erst auf 16k Fans – die allermeisten davon Menschen aus Fleisch und Blut, die sich an der digitalen Perfektion dieser Körper ergötzen. Shudu und Koffi sind in ihrem digitalen Universum nicht allein: Immer mehr virtuelle Berühmtheiten gesellen sich in dieser neuen Dimension des Daseins dazu, etwa die Insta-Queen Lil’ Miquela, mit bald 3 Mio. Followern oder der «böse Bube» Blawko22 (150k Follower), der zeitweise eine virtuelle Liaison mit der ebenfalls rein virtuellen Bermuda Robot Queen (290k Fans) hatte und eine eigene Radio-Show in den USA hat.
Alle diese digitalen Wesen sind gefühlte 18 Jahre jung, manche auch etwas darunter. Das jahrhundertalte Schönheitsideal der Jugend gilt auch im virtuellen Raum. Die digitalen Influencer sind meist bildschön – und wenn sie Macken haben, dann ganz charmante, die zum Markenzeichen geworden sind. Was solche virtuellen Wesen an Kleidung tragen (wenn sie denn etwas anziehen, denn sie sind auch oft ziemlich nackt zu sehen!), das ist ebenso geschliffen und poliert wie ihre sorgsam ausgedachte «Biografie»: Sie tragen virtuelle Mode.
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Wenn man den Trendforschern von jetzt glauben darf, wird virtuelle Mode die Trends von morgen setzen. Kleidung, die man gar nicht kauft oder trägt, sondern nur als eine Art digitaler «Skin» auf seinen Avatar lädt und appliziert. So, wie man Musik heute nicht mehr physisch besitzt, sondern nur noch in einer digitalen Bibliothek bei Spotify, Sonos und anderen Streaming-Diensten ablegt, wird man sich in Zukunft angeblich auch kleiden. Fürs Online-Date einen neuen Fummel von Versace, fürs Zoom-Meeting mit dem Chef ein Anzug von Tom Ford. Klick – done. Passformprobleme? Zu lange Hosen? Abfallende Knöpfe? Solche Alltagsprobleme mit Kleidung gibt es bald nicht mehr.
Klingt wie Zukunftsmusik? Ist es nicht – denn die Zukunft ist – wie so oft – schon da… aber nur noch nicht ganz gleichmässig verteilt. Erste Marken bewegen sich aber schon zügig in diese Richtung. Sie orientieren sich dabei vor allem an der Game-Industrie – denn Computerspiele prägen das ästhetische Empfinden jüngerer Generationen entscheidend. So hat Demna Gvasalia, Chefdesigner bei Balenciaga, seine jüngste Kollektion als Game lanciert – es heisst «Afterworld: The Age of Tomorrow». Spieler kämpfen sich in Balenciaga-Entwürfen von einer Boutique über fünf Levels durch eine Fantasiewelt.
Das Game «B Bounce» von Burberry. (Quelle: Burberry PLC)

Das Game «B Bounce» von Burberry. (Quelle: Burberry PLC)

Real und Surreal – alles wird zu einem einzigen Fest der Farben und Erlebnisse. Gucci schneidert neuerdings zusammen mit Disney Kleidung, und für alle, die für so etwas nicht in der realen Welt Schlange stehen wollen, gibt es im Spiel Pokémon Go eine Auswahl an Rucksäcken, Hüten und Klamotten, die Gucci zusammen mit The North Face für die digitalen Avatare geschaffen haben. Wer gut spielt, kann diese begehrten Looks einsammeln. Auch beim extrem beliebten Game «League of Legends» kann man Luxusklamotten ergattern – Louis Vuitton hat zwei Looks dafür lanciert. In «B Bounce» kann man in Burberry-Daunenjacken durch Traumwelten hüpfen.
Scheint eine blödsinnige Zeitverschwendung? Nicht doch, für jüngere Konsumentinnen und Konsumenten ist der fliegende Wechsel zwischen realer Welt und virtueller Dimension eine ganz normale Sache – schliesslich sind sie mit Snapchat aufgewachsen, wo man parallel zum eigenen Profil auch ein eigenes Bitmoji unterhält, also ein digitales, comic-artiges Abbild von sich selbst. Verschiedene Marken haben die Wirkung dieser Figuren als Werbeträger erkannt: Ralph Lauren bietet ebenso Mode für Bitmojis an wie die Jeansmarke Levi’s, die gleich zwölf ganze Outfits für diese Anwendung kreiert hat.
Wer tiefer eintauchen will, lädt sich das Fashion-Styling-Game «Drest» auf sein Handy – hier kann man Supermodels als Avatare aussuchen und wie in einem edlen Luxuskaufhaus gleich bei verschiedenen Fashion-Brands shoppen. Für die Marken sind solche Applikationen spannende Fenster in die Welt zukünftiger Zielgruppen – sie können etwas online ausprobieren, bevor sie sich daran machen, es in tatsächlich bestehenden Geschäften zu lancieren.
Das Fashion-Game «Drest». (Quelle: Instagram)

Das Fashion-Game «Drest». (Quelle: Instagram)

Bisweilen springen die digital geborenen Kreationen bereits zurück ins reale Leben: der deutsche Sportartikelhersteller Adidas hat jene coole, rot-schwarze Version des Modells «Superstar», das der Held Miles Morales im Playstation-Game «Spiderman» trägt, als limitierte Sonderedition  lanciert – sie ist rasend gefragt. A Propos Turnschuh: Dior lädt Snapchat-User mittels QR-Code und Augmented-Reality-Technologie dazu ein, die neue Kollektion von «B27»-Sneakers auf dem Handy virtuell anzuprobieren. Wenn ein Modell dann gefällt, kann man es gleich aus der App heraus ordern.
Vieles davon, was derzeit an virtueller Mode aufpoppt, scheint vor allem Marketingzwecken zu dienen, also der Pflege der Marken-Awareness bei jüngeren Zielgruppen. Wer nun aber denkt, mit digitalen Klamotten liesse sich noch keine Geld verdienen, der möge sich mal mit dem Geschäftsmodell des holländischen Startups «The Fabricant» beschäftigen – das transluzid schimmernde, virtuelle Kleid namens «Iridescence», das die Firma entwarf und 2019 zur Auktion online stellte, wurde für 9500 Us-Dollar an einen Kanadier verkauft. So sieht Haute Couture im digitalen Zeitalter aus!
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Reale Menschen, die etwas tragen, braucht es bald nicht mehr. Als nächstes dürften auch die Zulieferer und Lizenznehmer an das Thema andocken: Warum sollte Zegna nicht ein virtuelles Super-Luxus-Tuch aus reiner Einhorn-Baby-Wolle weben, aus dem die digitalen Modemacher (wie z.B. Dingyun Zhang) dann ihre Kreationen fertigen? Krawatten aus Engelshaar sind dazu der letzte Schrei. Und an den Füssen trägt man butterweiche Loafers aus feinstem Dinosaurier-Leder von Hermès, aus der neuen Reihe «Frivolités virtuelles grande luxe».
Im Zuge der Virtualisierung der Branche verschwindet auch das real existierende Publikum aus den Modenschauen: So liefen die Models der letzten Show von Balmain vor Reihen von Bildschirmen, auf denen die 58 wichtigsten Meinungsmacherinnen und Front-Row-Berühmtheiten von zu Hause aus zuschauten. Praktischer Nebeneffekt: Man konnte die Bildschirme ohne Rücksicht auf gebotene Mindestabstände dicht nebeneinander stellen, und keines der «anwesenden» Luxusgeschöpfe musste eine Maske tragen, um seinen Sitznachbar vor einer drohenden Corona-Infektion zu schützen. Logisch, sahen alle perfekt aus: Filter, gutes Licht und Styling wurden vorab von Balmain koordiniert.
Look von Dingyun Zhang. (Quelle: Instagram)

Look von Dingyun Zhang. (Quelle: Instagram)

Damit findet eine Tendenz seine medienwirksame Fortschreibung, die schon länger zu beobachten ist: Die Entkopplung von realem Menschsein und seinem sorgsam inszenierten Abbild im digitalen Raum. Einfachstes Beispiel sind die beliebten, den user «verschönernden» Insta-Filter: Sie verhelfen mühelos zur Optimierung des eigenen Abbilds im Netz. Mit dem Pitch Lifter und anderen Studio-Tricks kann heute auch jeder wie Mariah Carey singen. Und jetzt kann man also bald Mode erwerben, die man gar nicht mehr anziehen muss, sondern nur noch als Skin appliziert.
Das Fernziel dieser dystopischen Entwicklung darf man sich jetzt schon vorstellen: Das Stil-Vorbild des ausgehenden 21. Jahrhunderts wird ein muskelbepackter Gigolo-Dandy-Gentleman in feinstem Tuch sein, stets vorne dabei an den grossen Online-Events. Gesteuert wird dieses Wesens irgendwo in einer Vorstadt von einem bleichen Nerd, der, in einer Methanwolke vor seinen Bildschirmen sitzt, umgeben von Pizza-Schachteln, sein virtuelles Ich mit neuen «Skins» ausstattet, um noch mehr Likes und Follower zu generieren. Denn das ist die wichtigste Energie, die er zum Leben braucht. Undenkbar? Heute ist nichts mehr undenkbar.

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