We like Meiers words

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Keine Ahnung, ob wir hier gegen Urheberrechte verstossen, wenn wir einen kompletten Text eines Autoren wiedergeben, aber Dieter „Yello“ Meier hat 2006 in „Hermes Baby“ den Zustand der „Ästhetik des Alltags“ so treffend und genau beschrieben, dass wir diese Zeilen einfach mit unseren Lesern teilen müssen. Es geschieht in An- und Abführungszeichen, ist also Zitat und damit hoffentlich keine ungebührliche Verbreitung des Werks, sondern: Eine tiefe Verneigung vor dieser brillanten Beobachtung. Der Titel des vergleichsweise kurzen Traktats heisst „Wenn Stühle lügen“, und er geht so:

„Zum Ende dieses Jahrhunderts ist die Ästhetik des Alltags im spätkapitalistischen Mitteleuropa nur noch die Hure des Konsums; Gebrauchsgegenstände haben ihre Identität verloren, die Suppenteller gehen auf den Strich, und die Stühle lügen, dass die künstlich verkohlten Balken krachen. Das Wort Spätkapitalismus kündigt nicht das nahe Ende eines Systems an, das keines ist, es beschreibt den Wahnsinn, mit dem das Kapital eine Überflussproduktion anpeitscht, die nicht mehr der Versorgung des Menschen dient, sondern nur noch der Rendite der eingesetzten Mittel. Krisen entstehen nicht mehr, wenn Produktion und Versorgung aus irgendwelchen Gründen zusammenbrechen, sondern wenn die Konsumation ins Stocken gerät.

Mit Werbung und Marketing konte man den längst überfressenen Gänsen das Futter noch jahrelang in den Hals drehen, jetzt aber sind wir so weit, dass die armen Viecher einfach nicht mehr können. Mit geschwollenen Lebern und prallen Mägen stehen sie im Gehege, verweigern die Nahrung und sind mit der Devise „Geiz ist geil“ die Hauptschuldigen der Absatzkrise.

Warum also sind im Zeitalter des Spätkapitalismus die Formwelten von Alltag und Sonntag aus allen Fugen geraten? Warum wird der Wirt in Gelsenkirchen mit verlogener Rustikalität vermöbelt? Warum ist der Ausbau des Flughafens Kloten zwischen künstlichen Wasserfällen hinter unsinnigen Geländern, einem Labyrinth von Grosstopfpflanzen und viertklassigem Alibi-Kunstgewerbe ein einziger Schrei entblösster Ratlosigkeit? Warum führt in Mode und Musik die galoppierende Schwindsucht von ödem Recycling das zynische Zepter und erklärt die von der Stange gekaufte zerrissene Hose erfolgreich zum letzten Schrei? Warum feiert der Schmuddel aus dem Warenhaus unter dem Namen Grunge die Orgien des Massenkonsums, und warum hat jeder anständige Mensch im neuen Jahrtausend die grösste Mühe, sich eine einfache Kaffeekanne oder einen vernünftigen Teller zu kaufen? Die Frage liesse sich über die Verzweiflung deutschen Filmschaffens zwischen Kunst und Kasse bis zu den simpel-philosophischen Illustrationen der Postmoderne und den neuen Uniformen der Heilsarmee weiterführen. Meier-Didaktowitz will weder auf den haarsträubenden Spannteppich in der Hotelhalle des Zürcher „Baur au Lac“ eingehen noch auf die von Hoteliersgattinnen verursachte Renovationszerstörung fast aller Grand-Hotels der Schweizer Alpen. Er will sich hier und heute fragen, wieso der Formverlust nicht etwa Ausdruck individueller Fehlleistungen ist (noch vor wenigen Jahren konnte der ratloseste Wirt sein Lokal nicht so gemein verunstalten, wie es heute die Tagesordnung bestimmt).

Ohne weitere Umschweife führt Meier-Cunctator und -Speculator den Formverlust der spätkapitalistischen Welt zurück auf ihren Sinnverlust. Unsere Produktionskraft, deren Steigerung ein massgebender Sinnstifter war und eine Herausforderung an das Individuum, vom Erfinder über den Unternehmer zum Arbeiter, hat die Bedürfnisse, die echten und unechten, längst überstiegen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit müssen zwecks Erhaltung der sogenannten Hochkonjunktur die meisten Bedürfnisse geschaffen werden, damit die fortschreitend technisierte und rationalisierte Produktion ihren Absatz findet und das Kapital einen sinnvollen Einsatz. Noch nie in der Geschichte Mitteleuropas war das Produkt der guten Funktion und Rationalität so weit enthoben, dass es als entfremdetes fast ausschliesslich der Seltbsterhaltung des Kapitals an sich dient.

Je weiter der echte Bedürfnisanteil der Produkte zurückging und sie zu Huren des Kapitals wurden, desto konsequenter wurde ihnen das Rückgrat der Funktion gebrochen, die der Form den aufrechten Gang erlaubte. Wenn nur noch der Schein das Sein bestimmt, weiss der Wirt in Schwamendingen nicht mehr, welchen Stuhl er wählen soll, weil das ganze Angebot eine einzige Lüge ist – von der mit falschem Russ geschwärzten Rustikalromantik bis zu den Dekorationsnetzen der Capri-Fischer, die in den Ausstattungshäusern der Erlebnisgestronomie auf 500-Meter-Rollen angeboten werden.

In einer Überflussgesellschaft, die das Leben unserer Spezies befreien könnte vom Zweck des reinen Überlebens, trifft der Uppercut der Frage nach dem Sinn des Daseins den Konsumenten so unvorbereitet, dass er stehend k.o. herumirrt: Es ist der Sinnverlust, der der Gegenwart die Identität stiehlt und den Gegenständen die Form.

In ihrer aufgesetzten Form, zerspringt die Tasse fast vor Zorn.“

Dem ist in seiner Eloquenz, Heftigkeit und Präzision auch acht Jahre nach Veröffentlichung nichts hinzuzufügen – es sieht nicht so aus, als wären wir inzwischen in einem anderen Zeitalter angekommen!

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