We think about the future

100 years_Behind the scenes_3

Public Relations sind ein seltsames Geschäft. Diese Branche spült einem permanent und penetrant Dinge auf den Schreibtisch, die man nicht braucht und den Blick fürs Wesentliche verstellen. Man stumpft ab und wird rasch immun gegen die vielen ungebetenen Zuschriften – und man entwickelt Strategien, um den Schwall der PR-Berieselung zu filtern (siehe auch Artikel HIER). Andererseits schaut man sich das Zeug ja manchmal doch summarisch an, und dabei bleibt dann der Blick irgendwo hängen. So ging es mir dieser Tage mit einer extrem rätselhaften Pressemitteilung der Firma Rémy Martin, einem traditionsreichen Spirituosen-Hersteller aus der französischen Stadt Cognac.

„100 years – the movie you will never see“ lautete die Überschrift, welche das PDF-Dokument trug und das von einem Filmprojekt berichtete, das ich nicht recht verstand: Der durchaus streitbare Filmproduzent und Schauspieler John Malkovich (der auch eine eigenartige Modelinie entwirft) hat zusammen mit Regisseur Robert Rodriguez für den Cognac-Hersteller einen Kurzfilm gedreht, der erst in hundert Jahren gezeigt wird. Das werden wir, die diese Zeilen nun lesen, wohl (fast) alle nicht selbst erleben. Bis zur Premiere im Jahre 2115 lagert der fertige Film in einem Safe, der auch von Unbefugten nicht zu öffnen ist, sondern erst 2115 seinen Schliessmechanismus freigibt. Heute Mittwoch, 18. November werden an einem Event nur drei „Teaser-Trailer“ gezeigt, welche eine mögliche Story zu dem Film skizzieren. Alle drei bereits vorab kommunizierten Storylines zeichnen düstere Szenarien für die Menschheit. Was man ausserdem heute bekommt: Ein paar Bilder (sie illustrieren diesen Beitrag).

Nun fragte ich mich: Wozu soll man so etwas wie diesen Film machen? Wer macht sich denn die Mühe, heute einen Film zu drehen – komplett mit Kostümen und allem –, den man vielleicht gar nie sehen wird, weil sich bis dann vielleicht gar niemand mehr an die spleenige Idee von damals erinnert? Vielleicht brennt auch das Haus ab, in dem der extrem komplizierte Safe steht, oder die Welt geht unter, wer weiss das dieser Tage schon? Möglich ist auch das Unmögliche. 

Ich fragte also bei der Pressestelle nach, was ich nun mit dieser Information tun sollte. Denn eine „Geschichte“ ist es ja nicht – zumindest keine, die man irgendwo in einem klassischen Medienformat brauchen könnte. Weil sich der Kern ja der Beurteilung entzieht. Ich erhielt die Antwort, ich möge mir doch, inspiriert von diesem Impuls, ein paar eigene Gedanken zur Zukunft machen. Die Dame, welche mich im Auftrag von Rémy Martin bearbeitete, meinte, sie wären sehr interessiert an einer „Kooperation“. Vielleicht, so die PR-Beauftragte, biete sich das Thema ja an, einmal über die Fashion- oder Lifestyle-Welt nachzudenken, wie sie sich in 100 Jahren entwickeln könnte.

Weil ich aber auf diesem Portal grundsätzlich keine „sponsored content“ mache, sondern nur mein persönliches Netz-Tagebuch schreibe (und dabei durchaus auch mal von echten Kooperationen berichte, die ich erlebe), wird das mit der Zusammenarbeit nichts werden. Wohl aber will ich mich der Frage stellen, frei von Verpflichtungen.

Wie sieht die Welt in hundert Jahren aus? John Malkovich hat eine Idee. Aber er verrät sie uns nicht.

Wie sieht die Welt in hundert Jahren aus? Filmemacher John Malkovich hat eine Idee. Aber er verrät sie uns nicht so schnell.

 

Also: Wie sieht „meine“ Welt im Jahre 2115 aus?

Ich stelle mir vor, dass die Welt in hundert Jahren formal keine grundlegend andere sein wird als heute. Sie wird immer noch rund sein, aber ein bisschen voller und schmutziger. Vielleicht hat sich das Bevölkerungswachstum eingependelt, vielleicht sind auch erste Völker bereits auf andere bewohnbare Planeten übersiedelt, die man bis dahin entdeckt hat. Man wird Energiequellen gefunden haben, die zigfach effizienter sind als alles, was wir heute brauchen. Ich wünsche mir, dass die Erschliessung solcher Ressourcen die Verteilkämpfe beendet, welche heute die Basis von viel Ungleichheit und geopolitischer Spannungen sind. Weil sie leicht und für alle zugänglich sind. Damit wird auch die Basis für den Terrorismus weggebrochen sein, der uns dieser Tage so in seinen Bann zieht.

Die Menschen werden im Jahr 2115 Seite an Seite mit Maschinen leben, manche auch in Beziehungen mit ihnen. Die Maschinen werden intelligenter sein und uns in vielem eine wichtige Hilfe sein. Weil sich alle Erlebnisse quasi-reell übers Netz abrufen lassen, werden wir weniger mobil sein (müssen) als heute. Die Strassen werden zu Flaniermeilen oder Sportbahnen, vielleicht auch zu Plätzen und Märkten. Die Flughäfen sind nur noch gigantische Shoppingmalls, von denen ab und zu – und unter extremen Sicherheitsvorkehrungen – Maschinen zu langen Flügen aufsteigen. Die Züge fahren superschnell und haben im kontinentalen Verkehr die komplizierte und unbequeme Luftfahrt obsolet gemacht.

Die Mode im Jahr 2115 wird trans-saisonal und trans-gender sein. Anlagen dazu sind jetzt schon vorhanden. Frauen und Männer tragen in etwa dieselbe, sich nur durch Körperformen unterscheidende Kleidung, die funktional, dehnbar, bequem und universell tragbar ist. Natürliche Rohstoffe sind aufgebraucht, die Stoffe sind aus allen möglichen rezyklierten Elementen gewonnen. Dabei übertreffen sie in vielen Aspekten die Vorzüge der natürlichen Fasern – auch in der Energiebilanz. Nur noch radikale Sekten halten an Baumwolle fest. Vielleicht können diese Kleidungsstücke auch etwas für uns entscheiden – etwa, wie wir gerade gewärmt oder gekühlt werden. Klar ist: Die Welt ist wärmer, Ventilation und Lichtschutz werden wichtiger.

Die Mode von 2115 wird eine Art Projektionsfläche sein für individuelle Lebensentwürfe. Die man auch je nach Einsatz verändern kann. Sie wird nicht mehr von Couturiers oder Stardesignern erdacht oder auf Laufstegen präsentiert, sondern entsteht im Kollektiv, im Schwarm. Sie ist das Produkt von Think Tanks, die an einer kontinuierlichen Evolution arbeiten statt in Saisons zu denken. Nicht wenige werden auch wieder Kleidung selber gestalten, weil die Tools dazu verfügbar sind: seien es Quartier-Workshops oder auch vollautomatisch computergenerierte Ware. Moderne Strickmaschinen spucken heute schon komplette Kleidungsstücke aus, die man nur noch anzuziehen braucht.

Die Menschen werden 2115 lange schön und jung sein – vielleicht doppelt so lange wie heute. Das verändert die Bedeutung der Jugend. Sie wird weniger relevant. Die Menschheit wird als ganzes älter sein. Man wird es diesen ewig jungen Alten auch nicht mehr so hässlich ansehen wie heute, wenn sie ihre Frische zu konservieren versuchen. Man wird Substanzen haben, die von innen wirken, statt brutal an Augenlidern und Lippen herum zu schnippeln.

Die einzige Perspektive, die ich nicht entwickeln vermag, ist diese: Was werden diese Menschen 2115 alle tun, um zu leben? Werden sie noch Jobs und Berufe haben, denen man ein Leben lang nachgeht? Oder wird die Welt ein gigantischer Freizeitpark, der sich aus Ressourcen nährt, die frei verfügbar sind und/oder extraterrestrisch angebaut werden? Letztere wären dann wohl wieder extrem teuer. Wird die Welt eine Antwort auf die Armut von Millionen und Milliarden gefunden haben, sodass sie sich an an der weiteren Verfeinerung dieser „besseren Welt“, die ich mir wünsche, beteiligen können?

Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass ich mir wünsche, dass „das Gute“, also Menschlichkeit, Nachsicht, Grosszügigkeit und Humor siegen werden. Dass Eleganz und Stil noch eine Bedeutung haben. Dieser Wunsch treibt mich an und motiviert mich täglich, meiner eigenen, bescheidenen und in hundert Jahren wohl vergessenen Arbeit nachzugehen.

Wie weiter mit der Utopie? Um die Gedanken weiter zu vertiefen, müsste ich wohl erst einen kräftigen Schluck von einem extrem guten Cognac haben. Vielleicht einen wie den Louis XIII Grande Champagne, den angeblich besten der Welt (von Rémy Martin). Er reift über fünfzig Jahre in einem Fass – dies war Anlass zu dem absurden Film, der Ausgang dieser Geschichte ist. Über hundert Jahre und vier Generationen von Kellermeistern braucht es für jede Karaffe, versichert man mir. Hoppla. Vielleicht schickt mir Rémy Martin ja ein Fläschchen davon? Das in Baccarat-Kristall abgefüllte Zeug kostet über 1500 Franken pro Dosis. Ich bin gespannt, ob diese Zeilen den entsprechenden Gegenwert haben? Ich würde es dann mit allen lieben Lesern teilen, die bis hier durchgehalten haben.

Im Hintergrund das exklusive Tröpfchen von Remy Martin ...

Im Hintergrund das exklusive Tröpfchen von Rémy Martin …

Postscriptum vom 18. Januar 2016:
Die Firma Remy Martin hat sich nie gemeldet und auch kein Fläschchen geschickt. Ich habe allerdings auch nirgendwo sonst je wieder von dem Film gelesen. Bin vielleicht der einzige, der darauf reagiert hat?

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