Ihre Stilberatung und Stilwissen im Radio ist ja Gut und Recht. Bevor jedoch das Schweizervolk auf gute Kleidung getrimmt wird. empfehle ich Ihnen, sich einmal der Moderatoren und Moderatorinnen der Schweizer Tagesschau anzunehmen. Die aktuelle Kleidung dieser Präsentatoren/Innen der Schweiz vermitteln wirklich das bünzlige Schweizer Aussehen! Schön wäre es, wenn Sie es fertig bringen, dass es auch für meine Augen angenehm ist, die Tagesschau einzuschalten und ich nicht weiterhin Hornhaut an meinen Augen bekomme. Ein Dankeschön an den Fachmann. Rudolf B.
Ich schaue ja schon seit einigen Jahren nicht mehr fern, weil für mich der Erkenntnisgewinn, den dieses Medium mir bietet, in keinem vernünftigen Verhältnis zum Zeitaufwand steht, den man dafür hat. Anders gesagt: Ich geh lieber spazieren als mir eine Folge von „Bachelor“ anzusehen. Aber nun gut, Sie zielen ja nicht auf das allerdümmste Format des zeitgenössischen Fernsehens, sondern auf das Flaggschiff von SRF, die Tagesschau. Und die ist ja sehr wohl erkenntnisreich, wenn auch leider meistens voller Negativ-News.
Die Tagesschau bleibt, das weiss ich von meinen Kontakten ins Leutschenbach, das wichtigste Aushängeschild des nationalen Bildrundfunks. Und genau das ist das Problem daran: Sie ist zu einem Monolith erstarrt. Entsprechend sehen die Moderatoren oft aus: Wie Statisten in einer Kulisse. Die Kulisse ist auch wirklich erdrückend. Die Moderatoren darin leben nicht, sondern sind Fassaden. Zwar tragen sie durchaus ordentliche Kleidung, teilweise von teuren Marken (auch solchen aus der Schweiz!), doch es sieht steif und unmodern aus. Die Moderatorinnen und Moderatoren erinnern mich sehr an Schalterbeamte oder Bankangestellte, die um ihren Job bangen und sich darum so brav wie möglich anziehen.
Ich würde der Tagesschau zu mehr Verspieltheit raten: Zu spannenderen Stoffen und Mustern, zu etwas gewagteren Kombinationen. Zu souveräneren Statements. Zu besseren Passformen und weniger „Panzern“. Zu weniger Schulterpolstern. Zu weniger dieser braven Business-Anzügen und mehr „Relaxed Tailoring“. Zu mehr Weichheit und Feminität. Und für die Männer zu weniger dieser superkorrekt-symmetrischen Krawattenknoten, die der Zürcher Essayist Dieter Meier als „Dreiecksknoten“ bezeichnet und für ihn ein sicheres Zeichen von Provinzialität sind.
Das Problem ist nur: Dies alles wissen die Styling-Verantwortlichen veim SRF schon. Sie sind alle geschulte Fachleute und haben ein gutes Auge für die Mode. Nur sind da die Sachzwänge – Budgets, technische Einschränkungen bezüglich Muster etc., real existierende Körperformen –, sodass am Ende ganz wenig Spielraum übrig bleibt. Und schliesslich ist da „Volkes Stimme“, die bei jeder noch so geringen Neuerung aufschreit und vom Fernsehen mehr Traditionsbewusstsein fordert. Und vergessen Sie nicht: Dann ist da noch diese widerliche Boulevard- und Gratis-Journaille, die nach jeder Art von „Fehltritt“ geifert, der von ihren Normvorstellungen abweicht und dies dann genüsslich vor ihrem Schundpublikum ausbreitet. Annina Frey kann Ihnen ein Liedchen davon singen (zwar keine Tagesschausprecherin, aber auch ein Aushängeschild).
Fazit: Die Spielräume sind gerade beim Outfit der Anchormen und Anchorwomen von SRF so klein, dass ich ehrlich gesagt nicht in der Haut derer stecken möchte, die diese Gratwanderung hinbekommen müssen.
Postscriptum vom 19.11.14: Dieser Hinweis erreichte mich gerade „aus dem Bauch“ des Schweizer Fernsehens: Ein australischer Fernsehmoderator trug ein Jahr lang den gleichen Anzug – und kein Mensch meckerte. Intressanter Artikel!
Sonnia Geiger
Vielen Dank für diese spannende Antwort! Ich kann Ihnen nur zustimmen. Was ich problematisch finde ist, dass bei vielen Moderatorinnen die Blazer viel zu eng und manchmal zu kurz sind und die Schultern nicht sitzen. Ich verstehe zwar, dass es technische Einschränkungen bzgl. Farben, Mustern etc. gibt, aber das ist kein Grund, um auf gut sitzende Kleidung zu verzichten. Denn gerade für ordentliche Kleidung für die Aushängeschilder des SRF sollte immer genug Budget vorhanden sein.
Herzlichst
Sonnia Geiger